
Alphabet
Alphabet
AT 2013, 109 min, R: Erwin Wagenhofer, K: Erwin Wagenhofer, D: mit Sir Ken Robinson, Yang Dongping, Qu Pei, Bai Jia Ye, Andreas Schleicher, Gerald Hüther, u.a.
98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%.
Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wird durch krisenhafte Entwicklungen zunehmend in Frage gestellt, und eine Antwort ist nicht in Sicht. Die politischen und wirtschaftlich Mächtigen wurden zum Großteil an den besten Schulen und Universitäten ausgebildet. Ihre Ratlosigkeit ist deutlich zu spüren, und an die Stelle einer langfristigen Perspektive ist kurzatmiger Aktionismus getreten. Mit erschreckender Deutlichkeit wird nun sichtbar, dass uns die Grenzen unseres Denkens von Kindheit an zu eng gesteckt wurden. Gleich, welche Schule wir besucht haben, wir bewegen uns in Denkmustern, die aus der Frühzeit der Industrialisierung stammen, als es darum ging, die Menschen zu gut funktionierenden Rädchen einer arbeitsteiligen Produktionsgesellschaft auszubilden. Die Lehrinhalte mögen sich seither stark verändert haben, auch ist die Schule kein Ort mehr des autoritären Drills. Dennoch beherrscht die Fixierung auf normierte Standards den Unterricht mehr denn je. Seit geraumer Zeit weht an den Schulen ein rauer Wind. »Leistung« als Maxime der Wettbewerbsgesellschaft ist weltweit zum unerbittlichen Maß aller Dinge geworden. Doch die einseitige Ausrichtung auf technokratische Lernziele und auf die fehlerfreie Wiedergabe isolierter Wissensinhalte lässt genau jene spielerische Kreativität verkümmern, die uns helfen könnte, ohne Angst vor dem Scheitern nach neuen Lösungen zu suchen.
Erwin Wagenhofer begreift das Thema »Bildung« sehr viel umfassender und radikaler, als dies üblicherweise geschieht. Fast alle Bildungsdiskussionen sind darauf beschränkt, in einem von Konkurrenzdenken geprägten Umfeld jene Schulform zu propagieren, in der die Schüler die beste Performance erbringen. Wagenhofer hingegen begibt sich auf die Suche nach den Denkstrukturen, die dahinter stecken. Was wir lernen, prägt unseren Wissensvorrat, aber wie wir lernen, prägt unser Denken. Nach WE FEED THE WORLD und LET’S MAKE MONEY ist ALPHABET der abschließende Teil einer Trilogie, in dem die Themen der beiden vorherigen Filme nochmals aufgegriffen und wie in einem Brennglas gebündelt werden. ALPHABET ist Erwin Wagenhofers bisher radikalster Film.
AUS EINEM INTERVIEW MIT PROF. DR. GERALD HÜTHER (HIRNFORSCHER, PROTAGONIST)
Herr Dr. Hüther, Sie sagen in ALPHABET, dass Sie die Ergebnisse aus Ihrer 20-jährigen experimentellen Hirnforschung in die Praxis umsetzen wollen. Welche sind das?
In meinem Bereich ist in den letzten Jahren durch die Forschung deutlich geworden, dass die sozialen Erfahrungen, die Kinder beim Hineinwachsen in ihre jeweilige Lebenswelt machen, in Form von Netzwerkstrukturen im Hirn verankert werden. Deshalb ist das Gehirn eines Menschen immer das Ergebnis der jeweiligen in der Beziehung zu einem anderen Menschen gemachten Erfahrungen. Deshalb muss ich mich als Hirnforscher mit der Frage befassen, was das für eine Gesellschaft ist, in der sich dieses Gehirn entwickelt hat. Was für eine Beziehungs- und Lernkultur ist es, die dort herrscht?
Welche Gesellschaft repräsentiert dann unser Bildungssystem, in dem sich unsere Gehirne und vor allem die unserer Kinder entwickeln?
Die Erfahrungen, die Kinder in unseren Erziehungs- und Bildungseinrichtungen machen, sind, um es nett auszudrücken, suboptimal. Wir erleben aber zurzeit eine interessante Situation, die wir in dieser Weise in der Geschichte unseres Landes noch nicht gehabt haben. Alle Beteiligten sind über das, was in Schulen passiert, unzufrieden und leiden daran. Den Kindern geht es nicht gut in der Schule. Wir hatten noch nie so viele kranke Kinder. In der Phase, in der die Grundschüler für die weiterführenden Schulen ausselektiert werden, steigt der Anteil von ADHS rapide an. Es gibt zudem zu viele Kinder, die an psychosomatischen Erkrankungen leiden, und viel zu viele junge Menschen, die ihre angeborene Entdeckerfreude und Gestaltungskraft irgendwann verloren haben, die Schule gar nicht abschließen und deren Talente unentdeckt bleiben.
