Subtil inszenierte Coming-of-Age- und Gender-Story über ein zehnjähriges Mädchen, das ein Junge sein möchte. TOMBOY, konsequent aus Kindersicht erzählt, beeindruckt durch zarte Momente und die subtile Annäherung an eine Heldin mit Respekt und Liebe.
»Du bist nicht wie die anderen«, sagt Lisa zu Michael, dem mit seiner Familie gerade neu zugezogenen Buben aus der Nachbarschaft. Sie ahnt nicht, wie recht sie hat. Denn Michael ist ein Wunsch- und Idealbild von Laure, der man nicht ansieht, dass sie ein Mädchen ist. Die Haare streichholzkurz, der Körper schlaksig, die Kleidung unisex, die Knie vernarbt, könnte sie mit ihrer Vorliebe für Fußball und Bubenspiele genauso gut wirklich ein Michael sein. Und genau das will Laure in diesem Sommer ausprobieren. Gewiss, die Familie gibt Geborgenheit, die kleine Schwester Jeanne schaut zu Laure ebenso auf wie zu Michael. Der Vater ist spürbar stolz auf seine burschikose Tochter, die hochschwangere Mutter eher besorgt, weil Laure so gar keine Tendenzen zu weiblichem Gehabe hat. Bald wird in der Familie manches anders sein, denn ein »echter« Sohn kündigt sich als drittes Kind an. Laure scheint ihn jetzt schon zu beneiden – er wird sein dürfen, was sie sich als geheime Identität zugelegt hat. Die Spielkameraden mögen Michael, auch wenn »er« sich vor dem gemeinsamen Badeausflug einen Plastilin-Penis basteln muss, um glaubwürdig zu bleiben. Laure wird mit ihrem Doppelspiel immer stärker in die Enge getrieben und knapp vor Schulbeginn ist es unvermeidlich: die Sache fliegt auf.
Céline Sciamma ist dem schwierigen Thema der Geschlechtsidentität zugleich mit Sensibilität und Leichtigkeit begegnet. Sie hat in Zoé Héran eine perfekte Darstellerin für Laure/Michael gefunden, die genau das vermittelt, was junge Menschen in der Vorpubertät mehr oder weniger intensiv erleben: Identitätssuche. Ob sich Michael gegen Laure später einmal durchsetzen wird, und wie schmerzhaft dieser Weg werden könnte, bleibt ungewiss. Vorerst muss Michael eine Niederlage einstecken.
INTERVIEW MIT CÉLINE SCIAMMA
Was war der Ausgangspunkt für Ihren Film?
Tomboy ist unglaublich schnell entstanden. Zwischen der Arbeit am Skript und Kinostart lag nicht einmal ein ganzes Jahr. Ich habe mit dem Schreiben des Drehbuchs im April 2010 begonnen, und im August drehten wir bereits. Die Dreharbeiten dauerten zwanzig Tage lang, wobei das Filmteam aus vierzehn Leuten bestand. Diese Zahlen verraten schon Einiges über den Geist, von dem das Filmprojekt beseelt war, über die Radikalität und die Dynamik, um die es mir ging. Und genau das war auch mein Ausgangspunkt: eine bestimmte Herangehensweise und die Lust, anders zu arbeiten als sonst üblich. Schon seit langem ging mir die Geschichte eines jungen Mädchens durch den Kopf, das sich für einen Jungen ausgibt. Ich hatte den Eindruck, damit Neuland zu betreten, zumal es nicht gerade häufig geschieht, dass Identitätsprobleme während der Kindheit im Kino thematisiert werden. Es scheint fast, als wäre die sexuelle Orientierung von Kindern mit einem Tabu behaftet. Und dies, obwohl doch gerade die Kindheit eine Zeit der großen Gefühle und intensiven sinnlichen Erlebens darstellt.
Bei Tomboy ging es mir darum, einen energiegeladenen, freien Film zu drehen: Ich wollte neue Dinge ausprobieren, was die Inszenierung betrifft, mehr Schnitte vornehmen, die Abfolge der einzelnen Sequenzen anders gestalten als sonst und dabei lange Plansequenzen weitgehend vermeiden. Ich hatte Lust auf einen kraftvollen Film, der von scharfen Gefühlskontrasten lebt.
Das Identitätsproblem des Mädchens, das die Hauptfigur des Films ist, beginnt und endet zugleich mit der Nennung ihres Vornamens: Michael bzw. Laure… Ich wollte Laure nicht als eine Person porträtieren, die von vornherein, also schon bevor man sie nach ihrem Namen fragte, Opfer einer schweren Identitätskrise war, selbst wenn sie ihr Haar kurz trägt und auch sonst recht jungenhaft erscheint.
Ein Zuschauer, der nichts über den Inhalt des Films wüsste, müsste es bis zur Badeszene mit sich selbst ausmachen, ob er da einen Jungen oder ein Mädchen auf der Leinwand sieht. Es ist der Blick der anderen, der darüber entscheidet, wer man ist. Der Blick des Zuschauers wird also in der gleichen Weise hinterfragt wie derjenige von Lisa, die Michael wirklich für einen Jungen hält.
Was können Sie uns zur Dramaturgie von Tomboy erzählen?
Besonderen Reiz hat für mich der Moment, wo die Maske fällt und ein Protagonist zusehen muss, wie er mit den Folgen seines Tuns zurechtkommt. Ich wünschte mir eine einfache, stringente Dramaturgie: Es ging darum, das Treiben einer Person zu beobachten, die mit starkem Willen auf ein bestimmtes Ziel fixiert ist und dabei ein doppeltes Spiel spielt. Und daraus ergibt sich dann die ganze Spannung: Laure alias Michael sieht sich ja fortwährend mit der Frage konfrontiert, ob man ihr nicht auf die Schliche kommen wird – und der Zuschauer stellt sich genau dieselbe Frage. Dieses Handlungsmuster ermöglicht somit die Identifikation mit der Hauptfigur und eine gewisse Empathie. Die Frage nach der sexuellen Identität betrifft ja jeden von uns, vor allem in jener Phase der Kindheit, in der man eher von »Verkleidung« als von »Travestie« redet. Man kann darin den Beginn eines radikalen, grundlegenden Wandlungsprozesses sehen oder auch nur eine vorübergehende Episode in der Entwicklung eines Kindes, das in einer bestimmten Phase beschlossen hat, so etwas einfach einmal auszuprobieren.
Wie haben Sie Zoé Héran gefunden, die Darstellerin von Laure alias Michaël?
Das Casting war im Grunde unsere größte Sorge, waren geeignete Darsteller doch Eine conditio sine qua non, um diesen Film verwirklichen zu können. Vor allem mussten wir ein Mädchen finden, das als Junge glaubhaft erscheinen würde und in der Lage wäre, einen solchen auch zu spielen. Es ist kaum zu glauben, tatsächlich sind wir auf Zoé aber bereits am ersten Tag des Castings gestoßen. Im Rückblick erscheint die Begegnung geradezu romantisch, sie war es aber auch schon im ersten Moment: Zoé Héran war genau die seltene Perle, nach der wir gesucht hatten. Ich war auf Anhieb von ihrer Körperhaltung beeindruck, davon, wie photogen sie war. Sie begeisterte sich für Fußball, war gern bereit, sich ihre langen Haare abschneiden zu lassen, und wirkte sehr natürlich in der kleinen Probeszene, die wir sie spielen ließen. Sie gefunden zu haben, hat uns sehr geholfen, die nötigen finanziellen Mittel aufzutreiben. Die Leute brauchten nur ihr Photo zu sehen, um sofort zu begreifen, dass sie die Idealbesetzung war: Die zentrale Filmfigur hatte ein Gesicht bekommen…
Musste Zoé es überhaupt erst einüben, sich wie ein Junge zu benehmen?
Sie hatte das schon vorher an sich. Nachdem wir ihr dann auch noch die Haare geschnitten hatten, fühlte sie sich erst recht dazu berechtigt, sich genauso zu benehmen. Diese Dualität war ihr also durchaus vertraut, man musste sie jedoch dazu bringen, sich auch ganz auszudrücken und daraus eine Filmfigur zu konstruieren. Laure alias Michael erlebt ja in einem fort sehr widersprüchliche Gefühle, die zwischen Sorglosigkeit, augenblicklichen Glücksgefühlen und dem Bewusstsein ihres falschen Spiels angesiedelt sind. Auch unser Arbeitsverhältnis war durch diese Kontraste geprägt: Wir hatten keineswegs dieselbe Beziehung zueinander, wenn sie das eine Mal Michael und dann wieder Laure spielte. Bei den Szenen, in denen sie Laure verkörperte, handelte es sich im Wesentlichen um Innenaufnahmen: Ich war da sehr auf sie konzentriert, der Kontakt zwischen uns war viel zärtlicher und auch kindlicher. Wenn sie sich hingegen als Michaël im Freien herumtrieb, dann ging es gröber zur Sache: Die Tonlage war dann eine ganz andere, allein schon, um sich bei der Gruppe Gehör zu verschaffen. Es ist ja auch wirklich eine sehr heikle Rolle, die sie da zu spielen hatte! Daher konnte ich ihren Hang zur Flucht schon gut verstehen.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, mit einer sehr kompakten Digitalkamera zu drehen?
Ich war von vornherein der festen Überzeugung, dass es zur Verwirklichung dieses Films eines großen künstlerischen Gestaltungswillens bedurfte, ob dies nun die Dekors, die Kostüme, die Farben oder ganz allgemein die bildliche Umsetzung betraf. Durch die Verwendung der Digitalkamera veränderte sich auch unsere Ausgangslage, denn Crystel Fournier, unsere Kamerafrau, hatte sie noch nie zuvor benutzt und durfte sich nun damit amüsieren, sie einmal auszuprobieren. Da sie weniger wiegt als herkömmliche Kameras, erleichterte sie es uns auch, auf Augenhöhe der Kinder zu filmen. Außerdem gefiel mir der Aspekt, dass diese Kamera das Signum unserer Zeit trägt: Sie verkörpert ein »Hier und Jetzt«, das perfekt zum Film passt.
Spielzeiten und Tickets
FR 2011, 84 min, R: Céline Sciamma, B: Céline Sciamma, K: Crystel Fornier, S: , D: Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy