Traumhaft schönes Sozialmärchen vom finnischen Pessimisten Aki Kaurismäki.
Marcel Marx, früher Autor und wohlbekannter Bohemien, hat sich vor längerer Zeit in sein frei gewähltes Exil, die Hafenstadt Le Havre, zurückgezogen. Hier geht er inzwischen der ehrenwerten, aber nicht sonderlich einträglichen Tätigkeit eines Schuhputzers nach. Der Traum vom literarischen Durchbruch ist längst begraben, und trotzdem führt er ein zufriedenes Leben mit seiner Frau Arletty. Doch plötzlich erkrankt Arletty schwer, gleichzeitig kreuzt das Schicksal seinen Weg in Gestalt des minderjährigen Flüchtlings Idrissa aus Afrika. Und so ist Marcel gezwungen, sich erneut gegen die menschliche Gleichgültigkeit zu erheben. Seine einzigen Waffen sind sein unerschütterlicher Optimismus und die ungebrochene Solidarität der Mitbewohner seines Viertels. Mit ihrer Hilfe tritt er gegen den blindwütigen Machtapparat des Staates an, der die Schlinge um den Flüchtlingsjungen immer enger zieht. Es wird Zeit für Marcel, seine Schuhe zu polieren und die Zähne zu zeigen.
„Und dann die visuelle Gestaltung! Jedes Bild wirkt wie gemalt. Durch eine große Tiefenschärfe haben alle Szenen eine reizvolle Vielschichtigkeit. Man wähnt sich schon bald nach Filmbeginn in einem Traum. Und das, obwohl Kaurismäki auf manipulierenden Musikeinsatz verzichtet. Hier dröhnen keine Akkorde, schluchzen nie die Saiteninstrumente, wird Gefühl nicht durch Klangteppiche vorgetäuscht. Herrlich!“ – getidan.de
„Dieses extrem stilisierte Sozialmärchen mutet keine Sekunde lang konstruiert an. Mit lauter schrägen Wendungen schildert es selbstlose Solidarität als das Natürlichste der Welt. Das ist Kaurismäkis Kunst: als Vision zu schön, um wahr zu sein.“ – kultiversum.de
Auszug aus einem Interview
mit Aki Kaurismäki
Woher stammt die Idee zu LE HAVRE? Wurden Sie beeinflusst durch die immer dramatischer werdende Flüchtlingssituation? Oder wollten Sie einfach mal wieder einen Film in Frankreich drehen?
Die Idee für den Film habe ich bereits seit einigen Jahren, aber ich wusste lange Zeit nicht, wo ich ihn drehen soll. Eigentlich könnte die Geschichte überall spielen, in jedem europäischen Land. Nun ja, vielleicht nicht im Vatikanstaat. Oder vielleicht doch gerade dort. Die naheliegendsten Staaten wären sicherlich Griechenland, Italien und Spanien gewesen, tragen sie doch, gelinde gesagt, die Hauptlast dieses Problems. Wie auch immer, auf der Suche nach einer geeigneten Stadt fuhr ich die gesamte Küste von Genua bis Holland entlang und fand, was ich suchte, in Le Havre, der Stadt des Blues, Souls, und Rock ‘n’ Rolls.
Der Wahlspruch Frankreichs lautet „Liberté, Égalité, Fraternité“. Sieht so aus, als wäre für Sie nur noch die Brüderlichkeit übrig geblieben?
Nun, die anderen beiden waren meiner Meinung nach schon immer zu optimistisch. Aber Fraternité findet man überall, sogar in Frankreich.
Diese Brüderlichkeit unter den Bewohnern des Fischerviertels in Le Havre rettet den Jungen im Film, aber existiert sie auch im realen Leben?
Ich hoffe doch sehr. Wenn nicht, leben wir bereits in dieser Gesellschaft der Ameisen, die Ingmar Bergman prophezeite.
Ich habe das Gefühl, dass Sie umso mehr Zuversicht in die Menschheit haben, je zerstörerischer und gewalttätiger das Miteinander auf der Erde wird. Verwandeln Sie sich am Ende noch in einen hoffnungslosen Optimisten?
Ich bevorzugte schon immer die Version des Märchens, in der Rotkäppchen den bösen Wolf frisst. Im wirklichen Leben ziehe ich allerdings selbst Wölfe den blassen Männern der Wall Street vor.
Aki Kaurismäki
Aki Kaurismäki wurde 1957 in Orimattila (Finnland) geboren. Bevor er Filme drehte, arbeitete er als Kellner, bei der Post, als Tellerwäscher in einem Grandhotel und lange Zeit als Filmkritiker bei einer finnischen Filmzeitschrift: „Ich habe in vielen Berufen gearbeitet, bevor ich in diesen Film-Quatsch geriet.“ Seine Filme sind bekannt für ihren lakonischen, skurrilen und sparsamen Stil. Seine Helden sind die „kleinen Leute“: Außenseiter, Arbeiter und Arbeitslose – Verlierer der Gesellschaft. Wie kaum ein anderer Regisseur betrachtet Kaurismäki sie liebevoll, niemals spöttisch. Und immer findet sich auch eine große Portion bissigen Humors in seinen Filmen.
Spielzeiten und Tickets
FI 2011, 93 min, R: Aki Kaurismäki, B: Aki Kaurismäki, K: Timo Salminen, S: , D: André Wilms, Kati Outinen, Blondin Miguel, Elina Salo, Jean-Pierre Léaud, Ilkka Koivula